Bequemer geht’s nicht: In meinem »Salon-Waggon« reise ich seit über zehn Jahren rund um die Welt. Komfortabel, behaglich und immer mit einer Prise Spannung, wo der »Salon Schwarz auf Weiss« das nächste Mal Station machen wird. Meine Reiserouten suche ich mir nicht selbst aus. Ein unbekannter Anrufer/in, eine Mail, ein erstes Treffen, Übergabe der Reiseunterlagen – und schon geht’s wieder los mit fremdem Ziel. Das nächste Biografie-Abenteuer lockt …

Sie haben sicher schon verstanden: Die Routenpakete erhalte ich von meinen Biografie-Kunden – von Frauen und Männern, alt und mittel und jung. Immer reise ich »Im Auftrag Ihrer Majestäten« durch ihre Erinnerungen, Aufzeichnungen und Bilder. Sie geleiten mich durch Raum und Zeit an Orte, die alle für mich erst einmal weiße Flecken auf der Weltkarte sind: »Terra incognita«. Meine Forschungsaufträge lauten: erkunden, sondieren, ordnen, ergänzen, pointieren und präsentieren – alles unter hoher Geheimhaltungs­stufe, vertraulich, privat.

Meine geschätzten Auftraggeber werden mir nachsehen, dass ich (bei aller sonst gewahrten Diskretion) zumindest die Länder und Orte preisgebe, die ich, als Biografin, durch ihre Augen gesehen und kreuz und quer inkognito bereist habe.

An so vielen faszinierenden und bisweilen auch erschreckenden Orten dieser Welt durfte ich mich bei Stippvisiten und auch monatelangen Aufenthalten neugierig umsehen, recherchieren, interviewen, Reise­notizen machen und dann alles schwarz auf weiß, in Wort und Bild festhalten. Einige dieser »Lebensreisen« sind auch als Buch erschienen.

Steigen wir also in meinen »Salon-Waggon« in München ein und lassen – ganz ohne Streckenoptimierung – die Stationen meiner phantastischen Reisen an uns vorübergleiten:

… die kleine Sägerei am Fuße der Alpen … ein bescheidener Bauernhof in Niederbayern … Textilfabriken und Kohlebergbaustollen im RuhrgebietErfurt unter US-Bombern … das Breslau der Kürschner im 17. Jahrhundert … Schmugglerpfade im Salzburger LandOstpreußen, Riesengebirge und Sudetenland mit den Fluchttrecks und Heimatvertriebenen … die Mauer hüben und drüben … ein Regierungsbunker … das studentische Wien der 1970er Jahre … ein Kindersanatorium im Schwarzwald … das Rom der Liebenden und Entliebten … die Bergwelten des Grand Canyon, Fujiyama und Kilimandscharo … das politisch sprunghafte Kriegs-Rumänien … ein ganz anderes HawaiiSerbien-Herze­­­gowina und Afghanistan, die Kampfzonen traumatisierter Soldaten und Veteranen … Expeditionen auf Alpengletscher und fast bis in die ­Antarktis … die ersten Autobahnbauten im Irak und auf Java … eine »Mission Tadschikistan« … Teheran im Iran und Mumbai in Indien als Tat- und Sterbeorte einer rächenden Afghanin … in Auckland/Neuseeland bei einer Gastfamilie … Eisklettertouren in Patagonien … die wilden französischen CevennenBurmas goldene Tempel …

Noch bin ich nicht an jeder Station aus dem Salon-Waggon gestiegen, noch sind manche Reiserouten erst grob skizziert – doch neue Horizonte locken in leuchtenden Farben.

Nicht alle meine biografischen Expeditionen waren beflügelnd oder auch nur annähernd bequem. Zu zweit in Kranken- und Psy­chiatriestationen zu reisen, heißt für mich: als »Begleiterin auf Zeit« zugewandt und behutsam in ein fremdes Inneres abzutauchen. Nach dem »Von-der-Seele-Schreiben« leuchtet Manchem/r das Licht der Erleichterung und der Zuversicht.

Zurück zum Bild des »Salon-Waggons«: Zu meiner ersten Bio­grafie-Reise startete ich vor etwa zwölf Jahren mit meiner Mutter ­Elisabeth Richter (geb. 1913). Und mit ihr, der damals erst 21-Jährigen, ging’s gleich flott rund um die Welt:

1934 bis 1936 mit allerlei Fahrzeugen (per Schiff, in Rumpelzügen, klapperigen Bussen, Autos und einem Doppeldecker – ihrem allerersten Flug!) zuerst zum Studium nach Kanada und in die USA, dann von New York quer durch elf Bundesstaaten bis nach Los Angeles, ­weiter über den Pazifik nach Japan, Korea, Mandschurei, China, durch den Dschungel von Indochina über Siam (Thailand) bis nach Ägypten – und von dort wieder zurück in die »Hauptstadt der ­Bewegung«, ins heimatliche München.

1936: Elisabeth vor ihrem ersten Flug mit einem Doppeldecker über New York und einige Wochen später auf ihrer Reise durch Ostasien

Doch bald schon lockte wieder ein unkonventionelles Ziel: ­­Am letzten Friedenstag vor dem Zweiten Weltkrieg, am 31. August 1939, heiratete Elisabeth ins sagenhafte Transsilvanien, nach Kronstadt (rumänisch: Braşov) in Siebenbürgen. Ihr Auserwählter wurde viele Jahre und Ereignisse später mein Vater.

Aber wie kam man damals am schnellsten und sichersten nach Rumänien? Im  komfortablen Paris – Orient-Express! Eine »nur«-Zwei-Tages-Reise vom Hauptbahnhof München über Wien (umsteigen!), weiter über Budapest bis in die rumänische Hauptstadt ­Bukarest, der Endstation dieser nördlichen Orient-Express-Route. Welch Glücksfall für das junge Paar: In jenen Jahren machte der Orient-Express 170 Kilometer vor Bukarest just in dem verschlafenen Städtchen Kronstadt Station! (Wikipedia Orient-Express)

Die nördliche Route des Orient-Express führte durch Österreich, Ungarn und Rumänien bis zur Endstation Bukarest – mit der vorletzten Haltestelle in der Kleinstadt Kronstadt (Brasov)

Aus Elisabeths Biografie »Meine beiden Leben«:

»… Der Bahnhof Kronstadts lag außerhalb der Stadt. Die Familienabordnung empfing mich und meine Mutter Paula sehr herzlich. In einer offenen Pferdekutsche rollten wir Richtung Stadt. Das erste Gebäude, das ich von Kronstadt wahrnahm, war das große Gefängnis: Wegen der Sommerhitze hängten Gefangene ihre nackten Füße zwischen den Gitterstäben heraus. Welch Anblick meiner neuen Heimat!«

Der Hauptbahnhof von Kronstadt: Hier hielt der Orient-Express, von hier fuhren am 11. Januar 1945 die Viehwaggons Richtung Sowjetunion

Die nächste und diesmal kriegsbedingt erzwungene Fern-»Reise« der nun 31-jährigen Elisabeth ging am 11. Januar 1945 von Kronstadt bis tief in die ukrainische Steppe, ins östliche Donezk-Becken. Dreieinhalb Jahre musste sie dort als Zwangsarbeiterin – wie 70.000 andere auch – in einem Kohlebergwerk unter Tage um ihr Leben kämpfen. Der Gefangenentransport per Bahn dauerte endlose 18 Tage – im bitterkalten, verplombten Viehwaggon.

»… Auf den dunklen Bahngleisen stand eine unendlich scheinende Reihe von Viehwaggons, die die rumänische Regierung für unseren Abtransport bereitgestellt hat. Bis ins Kleinste war alles organisiert und vorbereitet. […] Meine Schwiegermutter Else und Frau Radui, unsere ungarische Köchin, standen beim Abschied verzweifelt in der Menschenmenge am Bahnsteig. Energisch stieß Frau Radui dann einen russischen Posten zur Seite, reichte mir durch die sich ­unerbittlich schließende Viehwaggontüre noch einen Flachmann ­mit Wermut und ein Goldstück in die Hand. Das Goldstück nähte ich später in den Saum meines kanadischen Lammfellmantels ein. So hatte ich nun ein paar Schluck Wermut, ein kleines Stück Gold, etwas Kleidung, ein Messer und einen Löffel – allerdings keine Essensvorräte und keinen Topf, Teller oder Gefäß. Das sollte ich schon während der Fahrt mit dem Viehwaggon und die ganzen Jahre im Lager schmerzlich vermissen …«

Zum zehnjährigen Bestehen meines »Salon Schwarz auf Weiss« möchte ich ganz besonders meiner Mutter Elisabeth Richter danken.
Ohne sie und ihre beiden Lebensreisen hätte ich mich nie auf den Weg gemacht, Biografin zu werden.
Ohne sie hätte ich nie die Welt durch die Augen meiner Kundinnen und Kunden gesehen und »erfahren«.

Deshalb auch Ihnen allen: Dankeschön für Ihre fabelhaften ­Bio­grafie-Reisetickets!

Ihre Andrea Richter

Ein kleiner privater Nachtrag: Mittlerweile ist meine, stets an jeder Biografie interessierte und – bei geistiger Frische – im Rollstuhl sitzende Mutter 105 Jahre alt.

1934: Elisabeth kurz vor ihrem Studium in Kanada

19. Aug. 2018: der 105. Geburtstag mit Tochter Andrea

Biografien aus dem »Salon Schwarz auf Weiss«