Ein aktuell sehr lesenswertes Buch von Christiane Hoffmann ist „ Alles, was wir nicht erinnern“ . In diesem Buch geht sie heute den Fluchtweg ihres Vaters während des 2. Weltkrieges nach.
Das Buch zeigt den „Erinnerungskonflikt“ zwischen der Generation, die den Weltkrieg miterlebt hat und ihre Nachkommen sehr schön auf. Immer wieder möchte die nachfolgende Generation über diese Zeit ihrer Großeltern erfahren, was für furchtbares, intensives und herzzerreißendes sie erlebt haben. Doch diese tun sich häufig schwer, möchten lieber über aktuelle Themen erzählen, statt wieder in die Erinnerung ihrer damaligen Erlebnisse einzutauchen und für die Enkelgeneration festzuhalten.
Das Buch zeigt auch sehr schön das Dilemma auf, vor dem ich immer wieder stehe, um die sogenannte „Kriegsgeneration“ beim Erzählen für die nachfolgenden Generation zu unterstützen.
Ein Ansatz, der mir hierbei immer wieder geholfen hat, ist den Erzähler insofern zu entlasten und die übernächste Generation, die „Enkelgeneration“ selber Fragen stellen zu lassen.
In mehreren Dreh-Portraits konnte ich mit dieser Methode einen neuen und unbeschwerten Zugang zu Informationen bekommen, ohne die Kriegsgeneration insgesamt zu sehr zu beanspruchen. Die „Enkelgeneration“ kann unbekümmert und direkt mit wissbegierigen Fragen die nötige Information von ihren Großeltern auf eine unbefangene Weise herauskitzeln, ohne dass diese dabei zu sehr leidet.
Neben der angesprochenen zusätzlichen Information, ist natürlich auch der zu beobachtende Familienprozess höchst spannend und gibt dem einen oder anderen Dreh-Portrait eine besondere Note und eine spezielle Würze.
Kinder und Enkel sind bewunderswert unbefangen und direkt – und nie verletzend! Toller Beitrag.
Liebe Eva,
danke für Deinen Beitrag, das klingt nach einem sehr lesenswerten Buch! Aber auch Deine Drehporträts machen neugierig….
Zum Thema Großeltern – Enkel möchte ich etwas erzählen, was Deinen Beitrag bestätigt:
Anfang des Jahres wurde ich an meinem Wohnort Berlin in eine Schulklasse eingeladen, um dort von meiner Arbeit als Biografin zu berichten. Die Siebtklässlerinnen waren dabei, sich mit dem Thema Biografie auseinanderzusetzen, und die Lehrerin hatte sich dazu etwas sehr Kluges ausgedacht: Damit es nicht nur bei der Theorie bliebe, sollte das Thema im wahrsten Sinne des Wortes mit Leben gefüllt werden – die Schüler hatten ihre Großeltern zu ihrer Vergangenheit befragt und die Aufgabe bestand nun weiter darin, daraus einen Text zu verfassen. Sie durchliefen also denselben Prozess, der auch mich als professionelle Biografin bei meiner Arbeit immer wieder begeistert: Fragen entwickeln – ins Gespräch kommen – sammeln, sortieren, konzentrieren – schließlich schreiben. Mit dem bedeutenden Unterschied, dass es sich um ihre eigenen Großeltern handelte.
In ihren Treffen begegneten diese beiden Generationen einander auf einer anderen Ebene, als dies sonst der Fall war. In diesen zwei Unterrichtsstunden konnte ich spüren, wie erfüllt die Schülerinnen von diesen neuen Erfahrungen waren: Eine Schülerin erzählte von den Zoom-Gesprächen auf Spanisch mit ihrer kolumbianischen Großmutter, eine andere hatte, lange bevor einige ihrer Mitschüler überhaupt angefangen hatten, deutlich mehr als die erforderliche Seitenzahl verfasst und war noch längst nicht fertig.
Wie sehr diese Arbeit und der Dialog mit der übernächsten Generation die Schülerinnen erfüllte, bestätigte mir auch die Lehrerin im anschließenden Gespräch. Und ich bin mir sicher: Auch für die Großeltern war dieser Austausch mit den Enkelinnen etwas ganz Besonderes!