Die 106 Jahre alte Elisabeth Richter [die Mutter der Biografin Andrea Richter] erinnert sich an den Beginn des Zweiten Weltkriegs, der ihre Hochzeit am letzten Friedenstag vor 80 Jahren überschattet hat.
Es ist ein heißer Sommer. »Zunächst noch warm und schwül«, schnarrt die Stimme des Radiosprechers am 31. August 1939 über den Äther. Just an diesem letzten Friedenstag heiratet Elisabeth Richter ihren Harry in München.
»Wenn ich später von der Tafel aufstehe, den Saal verlasse und mit meinem Steyrer Hut mit dem Gamsbart wieder hereinkomme, dann ist Krieg.«
Diese Worte sagt Adolf Hühnlein, der Vater von Elisabeth Richter, am frühen Nachmittag des 31. August 1939 zu seinem Schwiegersohn Harry. Zu dieser Stunde sitzt die Festgesellschaft noch beim Hochzeitsessen von Elisabeth und Harry im Hotel »Vier Jahreszeiten« in der Maximilianstraße.
Die 1913 in München geborene Elisabeth Richter lebt heute in Pullach in einem Seniorenheim. Ab 2007 erzählte sie ihrer Tochter Andrea Richter ihr äußerst bewegtes Leben für eine Biografie. Für das Buch »Meine beiden Leben« erhielt Andrea Richter 2010 den Preis des Deutschen Biographiezentrums; seitdem arbeitet sie als Biografin in ihrem Salon Schwarz auf Weiss.
An die 70 Personen mussten festlich bewirtet werden – und just drei Tage vor der Hochzeit, am 28. August, war die Lebensmittelversorgung rationiert worden. »Es gab Gebirgsforelle und Poularde vom Spieß, ich konnte aber fast nichts davon essen.« Die 26-jährige Braut war zu aufgeregt – weniger wegen des drohenden Krieges als wegen ihrer Heirat. Über die hochexplosive politische Lage informierte der Vater, ein hoher NS-Funktionär, vorerst nur den neuen Mann in der Familie.
»Durch das heimliche Gamsbartzeichen ließ er Harry wissen, dass der Kriegsausbruch, der Überfall auf Polen, in den nächsten Stunden sicher sei.« (…) »Vater bekam den Befehl, sofort in den Reichstag nach Berlin zu kommen. Er musste deshalb am Nachmittag überstürzt die Hochzeit verlassen (was ich gar nicht richtig mitbekam) und fuhr postwendend mit seinem Fahrer über die neue Autobahn in die Reichshauptstadt.«
Schon bei der Trauungszeremonie am Morgen war keine heitere Stimmung aufgekommen. Die Trauung hatte Elisabeths Mutter Paula in der Privatwohnung der Familie an der Widenmayerstraße organisiert und dafür einen improvisierten kleinen Altar vorbereitet, »von Mutter wunderschön mit einem alten Kreuz, gestickten Decken, Kerzen und Blumen geschmückt.« Die Hochzeit hatte zu Hause stattfinden müssen, da Brautvater Hühnlein als NSDAP-Parteimitglied, Generalmajor und Korpsführer des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) keine Kirche betreten durfte.
»Der Pfarrer predigte gar nichts Persönliches über uns, über unsere zukünftige Ehe. Er hielt eine todtraurige Rede. Es klang, als ob wir schon fast gestorben wären.«
Am Spätnachmittag gingen sie auf Hochzeitsreise, allerdings nicht wie geplant auf die romantische Insel Capri bei Neapel – wie schon lange von ihrer Schwiegermutter gebucht und im Voraus bezahlt (das Geld sah sie nie wieder) –, sondern ins Bayerische, nach Feldafing ins Hotel Kaiserin Elisabeth. »Das war nicht das, was wir uns erträumt hatten. Aber zumindest konnten wir – eine Vorgabe meiner Eltern – im Kriegsfalle zur Not zu Fuß nach Hause laufen.«
Am nächsten Morgen, es war der 1. September 1939, war bei der übernächtigten Hochzeitsgesellschaft in München der Teufel los.
»Krieg! Jeder wollte so schnell wie möglich nach Hause. Über Nacht aber waren die deutschen Grenzen geschlossen worden.«
Doch wohin mit den vielen Verwandten des aus Siebenbürgen in Rumänien stammenden Bräutigams? Vater Hühnlein konnte einen Kleinbus organisieren, der alle heil über die österreichisch-ungarische Grenze zurückbrachte. Beim späten Frühstück nach Elisabeths und Harrys Hochzeitsnacht tauchten höchst unerwartet die Brauteltern auf der Hotelterrasse in Feldafing wieder auf. Vater Hühnlein befürchtete, die Tochter könne wegen ihrer Heirat mit einem Siebenbürger und ihres neuen rumänischen Passes ausgewiesen werden, auch wenn Rumänien auf deutscher Seite stand. Es war alles verwirrend und bestürzend. Über ihren Flitterwochen lagen Schatten:
»Düster, bedrückt und unbegreiflich, so erschien uns auch das Leben im Hotel. Es war fast leer – nur wir beiden Flitterwöchner, ein paar vereinzelte Gäste und das zahlreiche Personal. Trotzdem fühlten wir uns als glücklich frisch verheiratetes Paar. (…) Wir wussten gottlob noch nichts von den dunklen Lebenssequenzen der folgenden Jahre. Für uns hielt die Welt noch kurz den Atem an.«
1941 flohen Harry und Elisabeth vor den Bomben in seine Heimat, ins noch friedliche Kronstadt in Siebenbürgen. 1944 geriet Harry in russische Gefangenschaft. Elisabeth wurde im Januar 1945 zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert. Im Juni 1948 kehrte sie aus den Kohlegruben im Donezbecken zurück nach Siebenbürgen; erst 1950 kam sie nach München zurück. Dem Ehepaar gelang der Neuanfang, doch bei einem Unfall in Kenia starb Harry am 4. März 1979.

Elisabeth (Mitte) und Harry (li. stehend) am 12. Sept. 1941 in Kronstadt, dem 60. Geburtstag ihres Vaters Adolf Hühnlein (1881–1942, re. sitzend), neben ihm Mutter Paula

Elisabeth Richters 106. Geburtstag am 19. August 2019 mit Tochter Andrea in München (alle Fotos: A. Richter privat)
Zwei ähnliche Artikel (Red. Claudia Wessel) veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung am 31.8./1.9.2019
Die Hochzeit am Tag vor Kriegsbeginn – das ist ja geradezu romanhaft! Und auch wie Elisabeth Richter diesen Tag und die folgende Zeit schildert, zog mich beim Lesen sofort in den Bann. Es wird mir bei diesen Zeilen wieder einmal deutlich, welches Geschenk Erinnerungen in sich tragen; wie jede einzelne Lebensgeschichte einen eigenen, neuen Zugang zur Geschichte eröffnet, sie neu erzählt, mit Leben füllt und fassbarer werden lässt. Die Welt hielt kurz den Atem an – ich auch beim Lesen.
Kann man das Buch von Frau Ricter ” Zwei Leben” noch haben?
Derzeit leider vergriffen. Vielleicht folgt eine Neuauflage später …