Auf meinem Nachttisch liegt ein Tagebuch, in das ich jeden Abend schreibe, worüber ich heute glücklich gewesen bin, was mich mit Dankbarkeit erfüllt und welche Erfolge ich hatte. An einem faulen Sonntag besteht der Erfolg vielleicht nur darin, die Küche aufgeräumt und einen besonders langen Spaziergang mit dem Hund gemacht zu haben. Mich erdet das sehr und beruhigt die zu mir gehörenden Zweifel, ob ich wirklich alles gut genug mache oder eigentlich besser sein sollte.

Inzwischen blättere ich auch gerne zurück in diesem Buch: So viele Erfolge, so viel Glück und Gründe, dankbar zu sein – ein schöner roter Faden für mein Lebenstau! Das Bild des „roten Fadens“ kommt übrigens von der königlichen Flotte der englischen Marine: Sämtliche Tauwerke waren so gesponnen, dass ein roter Faden sie durchzog, den man nicht herauswinden konnte, ohne das gesamte Tau aufzulösen. So war sofort zu sehen, welches Stück Tau zur Krone gehörte.

Welchen roten Faden will ich im Tau meines Lebens sehen?

Im übertragenen Sinne lohnt es sich also, den richtigen Faden einzufärben, der sich durch das Leben zieht, denn er begegnet einem immer wieder und wird zum untrüglichen Markenzeichen. „Auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an“, wusste bereits Kaiser Marc Aurel im alten Rom.

Ich kann die äußeren Umstände nicht ändern, die Stürme und Wogen, die das Leben mit sich bringt. Aber nach 15 Jahren Biografie-Arbeit mit verschiedensten Menschen bin ich der festen Überzeugung, dass ich die Wahl habe, mit welcher Haltung ich Herausforderungen begegne. Welchen Gedanken dazu erlaube ich, meine Seele zu färben? Wenn mich das zunächst auch überfordert, so kann ich doch mit Abstand meine Gedanken noch einmal korrigieren, oder ich stelle andere, stärkere dazu: Die schwere Krankheit hat mich damals umgeworfen. Und hat sie mir nicht auch die Augen dafür geöffnet, was mir wirklich wichtig ist im Leben? Gehe ich inzwischen nicht sehr viel sorgsamer mit mir und meiner Zeit um? Oder die Trennung, die mir im ersten Augenblick den Boden unter den Füßen weggezogen hat: Wie viel Stärke habe ich danach mobilisieren können, von der ich gar nicht wusste, dass sie in mir steckt? Ich bin ein Stehaufmännchen!

Wer seine Biografie schreibt, ob selbst oder mit Unterstützung, der sucht nach roten Fäden, die sich durch sein Leben ziehen. Aus dem Meer der Erinnerungen treten die als rot hervor, für die es in der Gegenwart einen Anker gibt. Ein solcher Anker kann eine Überzeugung sein, ein Selbstkonzept wie „Ich habe immer Glück gehabt“ oder „Mir ist im Leben nie etwas geschenkt worden“. Für die eine wie die andere Überzeugung werden sich ausreichend Erinnerungen finden, die sie stützen – während die anderen farblos und unerkannt zurückbleiben.

Deswegen übe ich mich abends beim Tagebuch-Schreiben darin, das Gute, Gelungene im Gedächtnis zu behalten. An diesem Faden ziehe ich mich durch alles andere hindurch.

Adele von Bünau, http://www.ihre-autobiografie.de