Jetzt ist es passiert: ich habe erstmals einen Kunden, der jünger ist als ich. Gut, ich habe mich daran gewöhnt, dass seit geraumer Zeit in meinem Brot-und-Butter-Job als Technischer Redakteur meine Chefs jünger sind als ich und noch in den Kindergarten gingen, als beispielsweise auf der Bonner Hofgartenwiese die große Friedensdemonstration stattfand. Aber in unserem Metier des Lebensgeschichtenaufschreibens hatte ich bisher immer mit hochbetagten Herrschaften zu tun, die gelegentlich nach Ende des Projekts das Zeitliche segneten – oder in einem Fall auch davor.

Und jetzt ist also der Kunde jünger als ich. Zwar nur ein halbes Jahr, aber immerhin. Wir haben den selben Geburtsjahrgang, sind in ähnlichem, kleinbürgerlichem Milieu aufgewachsen und haben in unserer Kindheit die selben Entwicklungsphasen der westdeutschen Bundesrepublik mitgemacht. Wir begeisterten uns für die gleichen schnellen Autos und liebten die selben Helden aus der Comic-Welt (Fix und Foxi), dem Kino (Winnetou I-II-III…) und der Popmusik (Stones, Beach Boys …). Was meinen Gesprächspartner und Kunden fundamental von mir unterscheidet ist ein enormer beruflicher Ehrgeiz und ein unglaubliches Vorwärtsstreben, einhergehend mit einem geschäftlichen Erfolg, der dazu angetan ist, einen schwindelig zu machen. Der Mann leitet ein Anzahl von Firmen, die aus einer kleinen Keimzelle entstanden sind. Ein Macher, dem nie etwas genug ist und der immer wieder nach vorne strebt. Den sein Auto nach einem halben Jahr langweilt und der dann ein anderes braucht. Der das Bedürfnis hat, etwas “zu tun” und sich deshalb nebenher als Kunst-Mäzen betätigt. Und der wohl nicht auf die Idee gekommen wäre, sein Leben aufzuschreiben – das war die Idee seiner Kinder zu einen runden Geburtstag. Erfreulicherweise war er bereit dazu und hat sich Zeit für Interviewtermine mit mir genommen. Für genau zwei, muss ich dazu sagen, die jeweils drei Stunden dauerten. Ganz auf Effizienz getrimmt hatte er sich genau überlegt, was er erzählen wollte und mir das inklusive vorstrukturierter Kapitel aufs Aufnahmegerät gesprochen. Und dabei nicht versäumt, klarzustellen, dass er sich erst auf der Hälfte seines beruflichen Werdegangs sieht und wir uns an seinem 100. Geburtstag dann im Kreise von 40 Urenkelkindern den Rest vornehmen könnten.

Was sich jetzt liest wie ein unerfreuliches Projekt mit einem dominanten, realitätsfernen Gegenüber, erwies sich als das völlige Gegenteil. Mit ruhiger Stimme ließ er sein Leben Revue passieren, sparte nicht an selbstkritischer Reflexion und verschwieg auch persönliche Fehler, Rückschläge und tragische persönliche Verluste nicht. Durch sein gut sortiertes Erzählen blieb mir auch viel Arbeit erspart, die ich sonst mit dem Aufräumen von Gesprächssplittern verbringen muss. Alles in allem wird es auch kein dickes Buch, dafür reichen zwei Interviewtermine nicht aus, und beim Korrekturlesen hat er noch etliche Passagen gestrichen, um Menschen, die er liebt nicht auf den Schlips zu treten. Und so ist es am Ende geworden wie er es will: kurz und knapp – und ehrlich.

Mir bleibt von diesem Projekt wieder einmal die Erkenntnis, dass man sich vor vorschnellen Urteilen hüten sollte und jeder Mensch einen zweiten Blick wert ist. Denn mir ging es wie wohl vielen, die den Anfang dieses Beitrags gelesen haben. Was für ein unmöglicher Kerl, dachte ich! Um dann festzustellen, dass ich ihn voreilig in eine Schublade gepackt hatte. Und im Nachhinein zu merken, dass die Kinder, die ihm das Biografieprojekt geschenkt haben, das voller Zuneigung getan haben in dem Wissen, dass “der Alte” darauf nie gekommen wäre.