„Ich bin 1936 geboren. Von klein auf musste ich meine sechs jüngeren Geschwister betreuen, denn die Mutter war krank. Abends hatte ich den gesamten Haushalt zu erledigen, abzuwaschen natürlich von Hand, dann alle Schuhe zu putzen und in einer langen Reihe aufzustellen; ab etwa 22 Uhr war ich mit allem fertig, dann durfte ich Hausaufgaben machen.
In der Schule − nach dem Frühstücksabwasch verspätet dort angekommen − “durfte“ ich mit Sondergenehmigung Socken oder Pullover stricken. Nachmittags hütete ich meine Geschwister auf dem Spielplatz, neben mir ein Korb Flickwäsche, zugleich die strenge Pflicht, alle im Auge zu behalten. Mit 13 war meine Schulzeit zu Ende.“
Irgendwo gibt es sie, die Worte eines Menschen, die in ihm leben.
Sie hat diese Worte nie ausgesprochen, sie sind ihr selber noch nicht bewusst. Die Biografin sitzt ihr gegenüber, die sie bisher nicht kannte, der sie aber vertraut. Jemand, der ihr volle Aufmerksamkeit schenkt. Intensiv zuhört, ohne zu werten, zu kommentieren, ohne diese Einwände zu machen: „Sie hätten doch …“, „Warum haben Sie nicht …?“
Viele Male habe ich, die Zuhörerin, erlebt, wie das Schwere, das die Seele seit Jahren belastet hatte, hervorbrach. Und es gab Schweres. Das erste, aus tiefstem Herzen kommende „Danke!“ der Erzählenden folgt meistens gleich nach dem Gespräch.
Manchmal beginne ich zu Hause sofort, ohne die Tonband-Aufzeichnung anzuhören, meine Erinnerung an das Gespräch zu formulieren. Dieser erste kurze Text ist oft eine Quintessenz, ein Kristallisationskern der ganzen Biografie. Er hat schon den Tonfall, der später die ganze Biografie durchklingen wird.
Nach der großen, Zeit nehmenden Arbeit des Abschreibens vom Diktiergerät, nun mit der Abschrift vor Augen, sichte ich: Welche großen Themen sind da? Welche konkreten Angaben brauchen wir noch?
Formulieren. Überarbeiten. Und der aufregendste Moment: Der erste Text geht an meine Kundin, meinen Kunden, denn nun ist es Zeit für eine Rückmeldung: Sind wir auf dem richtigen Weg? Das Warten beginnt.
Der Erzähler, die Erzählerin, erlebt jetzt die Verwandlung ihrer ausgesprochenen Worte in Geschriebenes.
Ein Mensch liest sein eigenes Leben, schwarz auf weiß.
Selbstverständlich kennt er, kennt sie bereits jeden einzelnen Fakt − ich habe ja nichts dazuerfunden. Aber das so zu lesen, ist nun etwas ganz anderes. Alle sagen mir dann nach einigen Wochen, teils sogar erst nach Monaten, wie stark dieses erste Lesen auf sie wirkte. Sie durchlebten das Schmerzhafte noch einmal. Aber auf eine neue Art. Nach dieser Zeit geht es ihnen besser, sie fühlen sich erleichtert.
Es ist keine Therapie, das Biografie-Schreiben. Aber es kann heilend wirken.
Claudia Stursberg www.claudia-stursberg.de
Liebe Claudia,
danke, Du hast diesen Prozess schön beschrieben, den wir als Biografinnen mit den meisten unserer KundInnen erleben! Ich möchte noch etwas ergänzen: Gelegentlich treffe ich auf KundInnen, von denen ich denke, ja von denen ich w e i ß, dass sie selbst sehr gut schreiben können. Ich bin dann immer etwas überrascht davon, dass sie sich dennoch an mich wenden. Aber ich verstehe es auch: Über sich selbst zu schreiben, ist schwierig, viel schwieriger als über andere. Für diese Menschen ist es eine wunderbare Erfahrung, mir ihre Geschichte von Angesicht zu Angesicht zu erzählen, während ganz still mein Aufnahmegerät läuft. Und das sagen sie mir auch – wie Dir!