Ich will die Tür aufschließen, aber ich zittere so sehr, dass ich den Schlüssel trotz größten Bemühens einfach nicht ins Schlüsselloch bekomme. Dann steige ich Treppen, doch ich kann kaum die Füße voreinander setzen, so schwer sind sie. So wie mir geht es allen, die sich in den „Dialog mit der Zeit“ begeben haben, einer Ausstellung zu den „Herausforderungen und Perspektiven des Alterns in unserer Gesellschaft“ im Museum für Kommunikation in Berlin. An weiteren Stationen versuche ich, telefonisch Kinokarten zu bestellen, obwohl ich schlecht hören kann, oder unter Simulation verschiedener Augenkrankheiten wie dem Grauen Star dort Zahlen zu erkennen, wo ich vor allem graue pfützenartige Gebilde sehe.
Es ist anstrengend und verursacht ein beklemmendes Gefühl. Aber ich weiß ja, dass mir die Gewichte gleich wieder abgenommen werden, dass ich meine Hand aus dem Gerät, das Tremor simuliert, wieder herausnehmen kann. Und auch wenn vieles im Alter schwer sein mag: Es kommt ja nicht von heute auf morgen. Man wächst ja hinein, damit tröste ich mich.
Und ich möchte weiter, dorthin, wo mir die Angst vor dem Älterwerden genommen oder zumindest gemindert werden soll, denn auch das verspricht die Website der Ausstellung: dass ein differenziertes Bild vom Alter vermittelt wird, dass ein Bewusstsein für die Möglichkeiten im Alter geschaffen, Stereotypen hinterfragt, Vorurteile überwunden und der intergenerative Dialog gefördert werden. Ganz schön viel.
Tatsächlich besteht das Altern nicht nur aus Mühen und Krankheiten, sondern auch aus neu gewonnenen Freiheiten, Erkenntnissen, vielleicht Gelassenheit. Programmatisch dafür stehen sich zwei Zitate in der Begleitbroschüre der Ausstellung gegenüber: „Das Alter ist fürchterlich. Es raubt einem nach und nach alles, was einem lieb und wichtig war, alles, worauf man glaubte, sich verlassen zu können.“ (Marcel Reich-Ranicki, Literaturkritiker und Publizist) Und, aber: „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.“ (Marie Luise Kaschnitz, Schriftstellerin)
Wenn ich meinen Ausstellungs-Guide so sehe und ihm zuhöre, denke ich wirklich: So möchte ich sein, wenn ich alt bin; körperlich und geistig fit, energetisch, dem Leben und den Menschen zugewandt. Alle Guides sind über 70, und sie erzählen während der Führung aus ihrem eigenen Leben, eröffnen den versprochenen Dialog. Dann führen sie die BesucherInnen durch farblich gestaltete Räume: durch den gelben, in dem die körperlichen, sensorischen und intellektuellen Herausforderungen erlebbar werden wie etwa das eingangs beschriebene Türöffnen. Danach durch den pinkfarbenen, in dem per Videoinstallationen fünf Menschen Rückschau auf wichtige Stationen ihres Lebens halten – für mich das Highlight der Ausstellung, da es meinem Zuhören bei der biographischen Arbeit sehr nahe kommt. Tatsächlich denke ich bei fast allen: Hoffentlich schreibt das jemand auf!
Nach dem Besuch eines zweiten „Dialograumes“, in dem die BesucherInnen mit Statistiken konfrontiert werden und eigene Vorstellungen vom Zusammenleben und der demografischen Entwicklung überprüfen können, kann man schließlich noch an einem Quiz teilnehmen, in dem unterhaltsam und optimistisch die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und der Gestaltung des Lebens im Alter vermittelt werden.
Ob die Ausstellung tröstlich oder eher beklemmend auf die, den Einzelne/n wirkt: zu empfehlen ist der „Dialog mit der Zeit“ allemal. Die Bilder wirken nach, etwa von „Danielle“, deren Gesicht im Laufe eines mehrminütigen Films die Veränderungen vom jungen zum alten Menschen vollzieht. Auch Fragen und Denkanregungen nimmt man mit: Gestalte ich mein Leben so, dass ich im Alter zufrieden darauf zurückblicken werde? Kümmere ich mich genug um meine Mitmenschen? Bereite ich mich auf die kommenden Lebensphasen vor?
Noch bis zum 23. August 2015 besteht die Möglichkeit, den „Dialog mit der Zeit“ in Berlin zu führen, bevor die Ausstellung ab November 2015 nach Bern gehen wird.
Museum für Kommunikation
Leipziger Straße 16
10117 Berlin-Mitte
www.dialog-mit-der-zeit.de
Als Einstieg in das Thema „Altern“ beziehe ich mich zunächst auf die beiden Zitate im Kommentar, um dann überzugehen zur Ausstellung und zum Altern an sich.
Zitat 1: „Das Alter ist fürchterlich. Es raubt einem nach und nach alles, was einem lieb und wichtig war, alles, worauf man glaubte, sich verlassen zu können.“ (Marcel Reich-Ranicki, Literaturkritiker und Publizist)
Zitat 2: „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.“ (Marie Luise Kaschnitz, Schriftstellerin)
Zu Zitat 1: Wer Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“ erlebt hat, hat auch gleich den Tonfall im Ohr. Entschieden in jeder Buchbesprechung und vielfach ignorant gegenüber den wirklich subtilen Tönen und wirklich brisanten Themen in der Literatur. Ebenso einseitig kommt das Zitat daher. Wie war jemand gestrickt, für den Alter bloß „fürchterlich“ ist? Und: Mit welchem Weltbild haben wir es zu tun, wenn sehr ausschließlich „sich verlassen zu können“ auf Erreichtes in den Fokus gerückt wird? Wo ist da wahre Offenheit für veränderliche Prozesse?
Zu Zitat 2: Auch das zweite Zitat scheint vor allem eine wirklich förderliche Haltung dem Alter gegenüber zu verstellen. Zu offensichtlich ist, dass die hier zu Metaphern gewordenen Wörter „Kerker“ und „Balkon“ nur „sprachmächtigen Eindruck“ erzeugen möchten, im Hinblick auf das Altern sind sie überhaupt nicht hilfreich.
Das zweite Zitat formuliert wenigstens „Das Alter ist für mich …“, während das erste Zitat sich anmaßt, für alle zu sprechen („Das Alter ist …“), sich im Besitz von Erkenntnis im Hinblick auf das Phänomen „Alter“ wähnt.
Scheinbar übergangslos sei einmal gesagt: Förderliche Eigenschaften sind: gute Beobachtungsgabe, Forschergeist oder einfach Neugier, jeder auf seine Weise, und vor allem: wirkliche Öffnung gegenüber den Prozessen, die da kommen. Das gilt für Kindheit und Alter. Wer zum Beispiel auf Stärke setzt und seine Einstellungen und Haltungen nicht transformiert, ja, der wird es im Alter noch schwerer haben als er es bis dahin schon hatte. Eben deswegen, weil das Alter andere Anforderungen enthält: Vielleicht an erster Stelle Einsicht.
Daraus folgt: Für denjenigen, für den das Leben bereits in der Kindheit eine Art Erkundungsreise war, der wird, sofern er nicht gebrochen oder krank wurde, auch das Alter erkunden. Und Erkundungsprozesse, in die sich eine ganze Person einbringt, sind immer spannend. Es sei denn, man hat es mit einer absolut „unspannenden“ Person zu tun, vielmehr: mit einer Person, die es nicht gelernt hat, Leben (und vor allem auch das eigene) in s/einer bestmöglichen Weise wahrzunehmen.
Damit wurde bereits ein Optimum angedeutet. Die Phrase, „die Realität sieht oft anders aus“, stimmt in dem Fall. Sie stimmt deswegen, weil viele aus den Werktätigkeits- und Freizeitprozessen so kernhaft entfremdet hervorgehen, dass sie allein schon von daher weit entfernt sind von dem, wovon die Rede war.
Verdächtig … ist ja schon, dass es in einer Gesellschaft, in der „Altern“ weitgehend zum Tabuthema degradiert wurde, nötig wird, mit einer Ausstellung darauf aufmerksam zu machen. Wohl deswegen: Weil man es vielfach mit „Analphabeten des Alterns“ zu tun hat.
Aber nicht nur auf diesem Hintergrund klingen die Angebote auf der Website zur „Kunst des Alterns“, wie einer der Slogans heißt, angemessen. Eine erweiterte Form, sich mit seinem Altern auseinanderzusetzen, kann dann der Kontakt mit einem entsprechend voreingestellten Biografen sein. Das bedeutet: Im Wechselspiel Prozesse hervorzufördern, sie zu reflektieren und zu durchleben. Und: zu verschriftlichen. Weil Verschriftlichung eine Art Siegel für Erinnerungen ist, womit sie entsprechend deutlich und bewusst werden.
So dachte ich – Verschriftlichung im Sinn – beim Umherstreifen auf der Website „Dialog mit der Zeit“ an den Titel eines Gedichtbandes von Reiner Kunze, der lautet: „Eines jedes einziges Leben.“ Bereits diese Aussage deutet auf ein ausgeprägtes Bewusstsein von Endlichkeit und Einzigkeit. Das korrespondiert dann auch mit Anhaltspunkten, die die Ausstellung bietet, etwa mit dem Leitsatz: „Altern ist individuell.“
Als einer, der den Jahren nach schon “etwas älter”
ist, schließe ich mich dem Zitat 2 von Marie Luise
Kaschnitz an. Man hat u. a. die Wahl zwischen Bal-
kon und Kerker. Ich selber wähle möglichst den Balkon, weil die Sicht auf das Leben aus dieser Perspektive übersichtlicher, deutlicher, positiver
(heller) ist.
Noch besser gefallen mir Goethes Gedanken in
seinem Gedicht: “Das Alter ist ein höflich Mann” …., diese Sicht auf das Alter ist zutref-
fend, angstfrei, humorvoll und (fast) objektiv.
Das Leben sehe ich wie Hermann Hesse in Stufen zu sehen.
Das Alter ist eine solche Stufe, die jeder täglich nutzen sollte.
Das Alter macht neugierig; und ist nur dann spannend, wenn
der alte Mensch bereit ist dazu; und wenn sein innerer Raum
intakt ist.