„Ich bin die Tochter einer Göttin“ meint die Regisseurin Stephanie Argerich und es ist nur ein bisschen humorvoll gemeint. Denn ihre Mutter Martha Argerich ist nicht von dieser Welt. Das zumindest ist der Eindruck, den das Filmportrait der Tochter vermittelt: „Bloody Daughter“, in den Kinoprogrammen unter dem Titel „Argerich“ zu finden.

Wer eine Dokumentation über einen Star der klassischen Musikwelt erwartet wird enttäuscht sein. Es ist eine sehr persönliche Geschichte über Frauen, die hier erzählt wird, über Sehnsüchte, Verletzungen, Talente und Leidenschaft. Am Ende wird wohl niemand Martha Argerich ganz verstehen – sie sich selbst auch nicht. Doch dass sie überhaupt zugelassen hat, dass ihre Tochter sie auf diese Weise portraitiert, kann man auch als einen komplizierten Liebesbeweis interpretieren.

In ihrer Kindheit genoss die Tochter Stéphanie alle Freiheiten und gleichzeitig hatte sie keine, denn sie war verloren in der Biografie ihrer Mutter, die das Leben in einer Wohngemeinschaft der Zweisamkeit einer Ehe vorzog und ihren Konzertreisen stets den Vorrang vor der Kindererziehung gab. Die Mutter war in ihrer Schönheit, ihren Talenten und ihrem Erfolg so unerreichbar (eine Göttin), dass sie nicht so recht als Vorbild taugte. Ihre vier Jahre ältere Schwester sei die Erste gewesen, die ihr Grenzen aufgezeigt habe konstatiert Stéphanie im Film, und dass sie sicher weniger Zeit mit „Nichtstun“ verbracht hätte, wenn sie bei ihrem Vater, dem Pianisten Stephen Kovacevich, aufgewachsen wäre.

Neben den aktuellen Aufnahmen gibt es auch zahlreiche alte (verwackelte) Filmaufnahmen zu sehen, die einen Eindruck davon vermitteln, wie die Kindheit der Tochter ausgesehen hat. Anrührende Szenen sind das, die vor allem ein wildes und fröhliches Leben zeigen und die doch durch die Kommentare, die die Regisseurin aus dem Off spricht, gebrochen werden. Stéphanie Argerich versucht gar nicht erst zu verbergen, dass dieser Film auch einen therapeutischen Aspekt für sie hat.

Am Ende des Films sitzen vier Frauen auf einer Decke im Park und lackieren sich die Fußnägel: Stephanie und ihre beiden Schwestern – sie haben drei verschiedene Väter – sowie Mutter Martha, die sich nicht entscheiden kann, welche Farben sie wählen soll. Es ist ein friedliches Bild. Und doch ist es sicher kein Zufall, dass sich die Szene in einem Wolkenbruch auflöst.

„Argerich, Bloody Daughter“ ist ein wunderbares Filmportrait, das sich ganz auf die Persönlichkeit seiner Hauptdarstellerin sowie auf die Beziehungen zu ihrer Familie konzentriert und die Karrierehöhepunkte außen vorlässt. Diesen Mut zur Lücke finde ich bewundernswert, denn auf diese Weise ist ein Portrait entstanden, das auch einen exemplarischen Charakter hat und die Frage beleuchtet: Wie lebt es sich mit einem Genie, das – nahezu notwendigerweise – so viele egozentrische Charakterzüge aufweist?

Wer sich mit Biografien beschäftigt, sollte diesen Film auf keinen Fall verpassen!

Ob und wann er in Deutschland läuft oder auf DVD erscheint konnte ich leider nicht herausfinden, auf jeden Fall läuft er momentan in der Deutschschweiz, zum Beispiel noch bis zum 24. April im Riffraff in Zürich.