Ein Film von Dominik Graf (nach einem Buch von Anatol Regnier)

 

Erich Kästner, Hans Fallada, Gottfried Benn – bekannte Menschen, die neben der Schriftstellerei noch etwas gemeinsam haben: Sie blieben nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland. Warum?

Vor einer Woche ist der Film „Jeder schreibt für sich allein“ von Dominik Graf in den Kinos angelaufen. Den Tipp hatte ich kurz zuvor von Franziska Lüttich erhalten und weil ich in Hamburg lebe, hatte ich das Glück den Film im Kult-Kino Abaton schon einen Tag früher als Preview sehen zu können. Anwesend war auch Anatol Regnier, der das gleichnamige Buch geschrieben hat, auf dem der Film basiert, und der zugleich einer der Protagonisten des Filmes ist. Dass er uns nach dem Film zur Diskussion zur Verfügung stand, war ein besonderes Highlight.

Der knapp dreistündige Dokumentarfilm handelt von deutschen Schriftsteller:innen, die sich in der NS-Zeit nicht dafür entschieden haben, Deutschland zu verlassen: Erich Kästner, Gottfried Benn, Hans Fallada, Jochen Klepper, Ina Seidel, Will Vesper und Hanns Johst.

Biografien zwischen 1933 und 1945

Erich Kästner behauptete, er habe in der Menschenmenge gestanden, als seine Bücher verbrannt wurden. Und doch ist er in Deutschland geblieben. Wie passt das zusammen? Ab 1933 waren Schriftsteller in Deutschland gezwungen, der Reichsschrifttumskammer beizutreten. Thomas Mann, sein Bruder Heinrich und sein Sohn Klaus kehrten Deutschland den Rücken. Andere hingegen blieben. Regnier (übrigens ein Enkel von Frank Wedekind) spürt den Biografien dieser Dichter nach und sucht Antworten auf die Frage nach dem Warum.

Viele Antworten

Politische Überzeugung, moralische Vorstellungen, familiäre Gründe – dass es keine pauschale Antwort gibt, war zu erwarten. Regnier und Graf zeigen aber, dass selbst das Verhalten eines einzelnen Menschen oft nicht kohärent war. Überzeugungen wandeln sich, Kompromisse werden geschlossen und es wird zu einem Drahtseilakt, so zu agieren, dass man weiterschreiben und veröffentlichen darf, ohne die eigenen Überzeugungen (ganz) zu verraten. Der Rückzug ins „innere Exil“ – konnte es das überhaupt geben?

Schmerzhafte Antworten

An manchen Stellen ist der Film – ich spreche immer vom Film, weil ich das Buch noch (!) nicht gelesen habe – ernüchternd, denn es fällt mir schwer, die verehrten Schriftsteller danach noch so zu sehen wie vorher. Diese Erkenntnis tut weh, aber sie ist wichtig.

Komplexe Antworten

Dank umfangreicher Recherchen können Regnier und Graf ein sehr vielschichtiges Bild von den Autoren – und den Menschen, die sie waren! – zeichnen. Sie wagen es, die Komplexität menschlichen Daseins darzustellen und verzichten darauf, zu urteilen oder zu vereinfachen.

Unbequeme Fragen…

Unausgesprochen drängt sich mir als Zuschauerin die Frage auf: Und du? Wärst du in Deutschland geblieben? Welche Strategie hättest du für dich gewählt? Hättest du wirklich den Mund aufgemacht und in Kauf genommen, damit deine Familie in Gefahr zu bringen?

… nicht nur für Schriftsteller:innen

„Jeder schreibt für sich allein“ handelt von Schriftsteller:innen, prominenten Intellektuellen, aber letztlich stellte sich die Frage danach, wie man 1933 zu der neuen Regierung stand, für jeden Menschen in Deutschland. Die vielschichtigen Antworten, die sich in dem Film abzeichnen, konnten auch für andere Menschen gelten.

Unbeantwortete Fragen – und doch verstehe ich ein bisschen mehr

Für mich war der Film nicht nur aus privatem Interesse spannend, sondern auch als Auftragsbiografin. Viele Menschen, denen ich dabei helfe, Ihre Lebenserinnerungen in einem Buch festzuhalten, sind zwar selbst zu jung, um in der NS-Zeit aktiv gehandelt zu haben, aber im Laufe unserer biografischen Gespräche stoßen wir nicht selten auf Fragen nach der Verantwortung ihrer Eltern und Großeltern. Fragen, die in der Regel nie gestellt wurden und die (den Eltern/Großeltern) heute nicht mehr gestellt werden können. Auch der Film lässt Fragen offen, deren Beantwortung nicht mehr möglich ist. Und doch macht er vieles nachvollziehbar – ohne dabei etwas zu entschuldigen! – und regt zu eigenen weiterführenden Gedanken an.

Fazit: Eine absolute Empfehlung für jeden, der ein bisschen besser verstehen möchte, in welchem Dilemma sich mancher Schriftsteller (und manch anderer Mensch) in der NS-Zeit wiederfand. Und nicht zuletzt für jeden, der sich in heutiger Zeit Gedanken über die eigene politische und gesellschaftliche Positionierung macht, darüber, wer er ist und wer er sein möchte.