Einige Monate vor ihrem Tod und ein halbes Jahr nach dem Tod meines Vaters vertraute mir meine Mutter eine Schachtel Briefe an, die sie all die Jahre gehütet hatte wie einen Schatz: Es war der Briefwechsel zwischen ihr und meinem Vater aus den Jahren vor ihrer Hochzeit.

Ich war überrascht: Von der Existenz dieser »Liebesbriefe« hatte ich bis zu dem Moment nichts gewusst. Und ich spürte, wie sehr ihr der Wunsch am Herzen lag, sie an einem sicheren Ort verwahrt zu wissen. Zunächst reagierte ich zurückhaltend, doch am Ende nahm ich sie an mich. Und mir kam dabei nicht im Geringsten der Gedanke, sie zu lesen – nein, nur aufbewahren wollte ich sie. Ich empfand eine gewisse Verantwortung und einen scheuen Respekt vor den intimen Gesprächen meiner Eltern. Sie auf ausdrücklichen Wunsch meiner Mutter aufzubewahren, war mir schon nah genug.

Erst nachdem sie verstorben war, kam in mir der Wunsch auf, diese Briefe – ein Zeugnis des Beginns und Wachsens ihrer Liebe – zu sortieren und zu einem fortlaufenden Dialog aufzuschreiben. Außerdem erhoffte ich mir davon, manches besser zu verstehen: die Beziehung meiner Eltern, meine Wurzeln, meine Kindheit und mich, als Erwachsene. Der Wunsch ließ mich nicht los. Zwei Jahre später entschloss ich mich, den Briefwechsel zu digitalisieren und zu einem Buch zu verarbeiten – nicht für die Öffentlichkeit, sondern nur für mich und meine Familie.

Während ich die Briefe abschrieb, las ich sie zum ersten Mal und stieß dabei auf Inhalte, die eigentlich nur den beiden Schreibenden gehörten. Durfte ich das lesen?

Außerdem kamen mir Bedenken, ob ich mit dem Buchvorhaben ihr Persönlichkeitsrecht verletzen würde, auch wenn ich nicht vorhatte, das Buch zu veröffentlichen. Denn fragen, ob sie das gutheißen würden, konnte ich die beiden nicht mehr. Mit ihrem Tod aber endete für mich weder die Beziehung zu ihnen, noch mein Respekt vor ihrer Privatsphäre. Ich befand mich in einem sensiblen Bereich, dessen Grenzen keineswegs klar festgelegt, sondern eher fließend sind.

Wozu auch die Frage gehörte: Wem, neben meinen Geschwistern, würde ich das Buch noch zu lesen geben? Und da Bücher ja bekanntlich ein Menschenleben überdauern, gingen meine Gedanken noch weiter: In wessen Hände würde das Buch gelangen, wenn ich selbst einmal nicht mehr lebte? Es bei meinen Kindern zu wissen, stimmte mich weniger besorgt als die Frage, was damit geschehen könnte, wenn auch sie nicht mehr lebten …

Sollte ich vielleicht nur ein Exemplar drucken lassen? Ein Kompromiss, mit dem ich das Risiko eines ungewollten Umgangs möglichst gering halten könnte, ohne auf die Verwirklichung des Buches zu verzichten.

Mehrere Jahre zuvor hatte ich meinen Vater darin unterstützt, seine Lebenserinnerungen an seine Kindheit im Krieg und seine Flucht aus der einstigen DDR aufzuschreiben. Nachdem dieses Vorhaben vollendet war, kündigte er an: »Und als nächstes schreibe ich, wie ich eure Mutter kennengelernt habe!« Doch dazu kam es nicht.

Wie hätte er die Geschichte erzählt? Was wäre in seiner Geschichte vorgekommen und was hätte er für sich behalten?

Ohne dass es mir zunächst bewusst war, habe ich mit der Realisierung des Buches nun das umgesetzt, was mein Vater sich damals vorgenommen hatte. Sicherlich auf eine andere Weise, als er es getan und möglicherweise gewollt hätte.

Eine Schachtel voller Briefe, aus denen ein Buch wurde.

Und beides hüte jetzt ich wie einen Schatz.