Ich war 20, als Deutschland wiedervereinigt wurde. Die Welt lag uns zu Füßen! Ostblock war nicht mehr nur im Interzonenzug zu riechen, sondern ließ sich auch hautnah erleben. Studentenbuden am unsanierten Prenzlauer Berg in Berlin wurden zum Inbegriff des Aufbruchs: eine ganze Wohnung, für einen Appel und ein Ei zu mieten. Man konnte die Wände rot lackieren, wenn man wollte – alles war erlaubt. Geheizt wurde mit Kohle, gekocht ebenfalls, die Badewanne hatte einen eigenen kleinen Ofen.

Das Interrail-Ticket der Bahn stand für ein ganzes Lebensgefühl: Raus aus der Wohlstandgesellschaft, mit Lust, Liebe und ohne Geld durch Italien tingeln, Straßenmusik machen, Vagabunden spielen – wir genossen unbeschwerte Freiheit. Uns fehlte keine Sicherheit.

Mit das Schönste am Reisen ist bekanntlich das Nach-Hause-Kommen: in die Heimat, in der man sich auskennt, in die Familie, die einen versteht, in den gewohnten Alltag, in dem man mittrotten kann, ohne ständig neue Entscheidungen fällen zu müssen. Heimat ist da, wo man nicht aus dem Rahmen fällt, in eine Gemeinschaft eingebunden ist und das Gefühl hat, mit anderen in der gleichen Richtung unterwegs zu sein. Heimat ist entspannend: man muss sie nicht täglich neu erfinden.

Wachsende Sehnsucht nach „Heimat“

Gegenwärtig erlebt die Heimat eine neue Renaissance: In Zeiten, in denen das Leben eine ständige Netzwerk-Reise durch alle Kontinente und Kulturen zu sein scheint, fühlen sich Menschen zunehmend kulturell „entbettet“. Heimat – das bedeutete immer das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft mit ähnlichen Wertvorstellungen, Sitten und Gebräuchen, es bedeutete, seine Umgebung zu verstehen und zu wissen, wie man darin zu handeln hat. In der neuen Beliebigkeit verliert man leicht sein kulturelles Geländer, an welchem man seine Identität ausgerichtet hat. Zu viel Entscheidungsspielraum, Vielfalt und Entgrenzung kann unfassbar haltlos machen. EU-Müdigkeit, Brexit, neues Nationalgefühl – es gibt viele Versuche, der Befremdlichkeit des sich rasend schnell verändernden Lebens zu entgehen und an das alte Heimatgefühl anzuknüpfen. Nicht alle Menschen seien hip, jung, urban und weltoffen, mahnte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und forderte eine „Beheimatungspolitik“.

Die Welt ins Haus holen

Meine jugendlichen Söhne träumen nicht mehr, wie ich einst, von einer Welt, die ihnen zu Füßen liegt, von Vagabundentum und Reise-Abenteuern: Sie träumen von einer heilen Familie, von Kindern, einem sicheren Nest und stabilem WLAN. Dann holen sie sich so viel von der Welt ins Haus, wie sie verarbeiten können.

Heimat als stabiles Sediment des Daseins brauchte die Treue gegenüber sich selbst – seinen Lebensprinzipien und Werten – ebenso, wie die Aufgeschlossenheit gegenüber anderen: Bewahrenswertes lässt sich nur lebendig erhalten, wenn man es Wachstum und Veränderung aussetzt, den Grundlagen des Lebens.

Heimat – Der Stoff, aus dem Biografien sind

Als Biografinnen und Biografen versuchen wir, die Heimat eines Menschen zu ergründen. Was ist das für ein Sediment, auf dem diese Persönlichkeit wurzelt? Wie will sie verstanden werden? Damit helfen wir gleichzeitig, Prägendes zu bewahren als auch, Veränderungen Platz zu verschaffen.

„Heimat“ – was bedeutet das für Sie?