Es ist ein verregneter Oktobertag. Eine Freundin und ich sitzen am großen Arbeitstisch vor dem Kamin. Der Blick geht hinaus in den Garten, wo bunte Blätter wie goldene Taler die Wiese schmücken. Wildgänse ziehen über die norddeutsche Ebene. Es wird wieder einmal Winter.

P1180942 - KopieVor uns auf dem Tisch liegen Texte und Fotos im fröhlichen Durcheinander. Zwischen Stiften, Papier und Computer finde ich die Mappen mit den Noten für ein Konzert, die Texte für ein Musical und das Theaterstück, das Christiane geschrieben hat. Gedichte und Artikel aus dem „Ohrenkuss“, Nachdenkliches und Fröhliches finden wir. Dazwischen immer wieder Fotos, auf denen sie uns entgegen lacht oder mit einem nachdenklichen Blick auf einen fernen Punkt außerhalb des Raumes schaut. Die Aufnahmen zeigen eine junge Frau in der ganzen Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit. Sie war eine außergewöhnliche, mal starke, mal traurige, mal fröhliche Künstlerin, die, so schien es uns, gleichsam mit uns am Tisch saß und sagte: „Das ist wichtig!“ und „Vergesst dieses nicht!“

Die Wildgänse waren längst an ihrem Ziel, als Christiane im Dezember 2015 während eines Urlaubs in Österreich starb. Sie wurde 36 Jahre alt. Als ein Mensch mit Downsyndrom stand ihr Leben von klein auf unter einem besonderen Stern. Ihr Weg war nicht immer einfach, er war oftmals sehr schwer und besonders für Christiane selbst eine Herausforderung, eine Aufgabe, in der es galt, sich als Mensch mit geistiger Behinderung wahrzunehmen und anzunehmen …

Liebe Leserinnen und Leser, noch einmal geht die Erinnerung an diese ungewöhnliche Biografie zurück. Ich wurde gebeten, ein Buch zu schreiben über eine junge Frau, die viel zu früh starb. Eltern und Freunde hatten mir alles, was sie an Material fanden, übergeben. Und so zog ich zu einer Freundin und Kollegin in den hohen Norden und für zehn Tage tauschten wir unsere Welt gegen die von Christiane ein. Ich lernte anhand der vielen Bilder, die sie gemalt hatte, der Gedichte und Briefe, die sie schrieb, einen ganz besonderen Menschen kennen. Sie hatte die Welt bereist, Theater gespielt und begeistert klassische Konzerte besucht. Sie liebte das Leben. Tag für Tag wurde sie mir vertrauter, und während draußen die Natur sich anschickte, in den Winterschlaf zu gehen, sich zurückzuziehen, trat hier ein Mensch ins Licht der über seinen Tod hinaus noch eine klare Botschaft für mich hatte. Christiane, die ich leider nicht mehr kennenlernte, brachte mir in diesen Tagen Entscheidendes bei. Unser Leben ist immer ein Geschenk, ganz gleich, was uns mitgegeben wird. Es ist unabhängig von Arm oder Reich. Es spielt keine Rolle, ob wir gesund sind oder krank. Das Ja zum Leben ist eine Entscheidung, die wir treffen, und aus dem heraus Wunderbares geschieht. Das wollte ich im Buch hervorheben, dieses unbedingte JA.

Ich habe es von Christiane lernen dürfen, und ich bin sehr dankbar, dass sie mir diese wichtige Erkenntnis geschenkt hat. In einem ihrer Briefe finde ich die folgenden Sätze: Ich genieße das Leben. Ich kann mich feiern lassen. Ich fühle mich frei. Ich wünsche uns, dass wir das Leben bejahen, feiern und genießen, weil es ein einmaliges Geschenk ist.