Meine Zeitreisekapsel ist gefühlt einen halben Kilometer lang, hatte viele bequeme Sitzplätze und heißt ICE. Ich steige in München ein, natürlich in die erste Klasse. Wenn schon, dann richtig. Nach rund fünf Stunden tausche ich die ICE-Zeitreisekapsel gegen eine kleinere, einen Fiat 500 XL. Also ein Riesenzwerg-Auto. Mitfahrer in die Vergangenheit: mein Sohn Nico, 35 Jahre. Ich empfinde es als ein kleines Wunder, dass er mitfährt.

Denn neulich beim Frisör:

Ich „Ich schreib jetzt Biografien“

Meine Frisörin: „Was’n das?“

„Lebenserinnerungen von Menschen“

Ganz normale Menschen?!“

„Ja, ganz normale.“

Wen interessiert’n das?“

„Zum Beispiel die Kinder und Enkel“

Echt jetzt?“

„Echt jetzt!“

Also meine Tochter, die würd’ das Null interessieren, was ich erlebt hab.“

„Wart mal ab, kann schon noch kommen“

Kurzes Schweigen…

Meine Frisörin „Obwohl…. Meine Mutter erzählt ja auch viel von früher. Ist schon interessant, hat’s ja nicht leicht gehabt. War mega was los in ihrem Leben.“

„Eben!“

Dann erzählte ich von meiner geplanten Erinnerungsreise mit meinem Sohn zu den Stätten der Kindheit meiner Mutter. Also seiner Oma.

Und der fährt da echt mit? Krass!“

Ja, find ich auch, denn vor ein paar Jahren hätte Nico das alles noch gar nicht interessiert. Er liebte seine Oma sehr und als sie im November 2021 mit 90 Jahren starb war er sehr traurig.

In Mamas Nachlass waren Fotoalben, sehr alte Fotoalben. Die ältesten Fotos sind von meinen Urgroßeltern und wurden so um 1910 aufgenommen. Und die haben das Potenzial für Magie.

Die Wurzeln zur Geschichte seines leiblichen Vaters wird mein Sohn nie wirklich tief ergründen können, wir trennten uns schon vor seiner Geburt und er ist auch schon gestorben.

Doch auf einmal merkte er, dass es ja nicht nur die Oma gab, die ihm viel von früher erzählte und ihn mit in eine vergangene Zeit nahm. Sondern dass noch viel mehr Menschen zur Familie gehören. Großonkel, Großtante, Großcousinen, Urgroßeltern, Ururgroßeltern und dass wir unsere Familien teilweise bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen können. Ariernachweise hatten einen schlimmen Hintergrund. Für die Suche nach den Wurzeln sind sie heute aber sehr wertvoll.

Auf einmal sah Nico seine Wurzeln. Es wurde ihm bewußt „Ich lebe nicht aus dem Nichts, in meiner Vergangenheit stehen unzählige Menschen, viele Generationen.

Und nun sind wir unterwegs auf Mamas bzw. Omas Spuren, in Niedersachsen. Im Gepäck jede Menge Fotoscans der alten Alben. Und dem Segen von oben, wahrscheinlich von Mama. Denn wir treffen in den drei Tagen so viele Menschen in den Orten Polle, Lehre, Wolfenbüttel und Braunschweig, die uns mehr Informationen und Einblicke geben können, als wir je zur zu träumen gewagt hätten.

Wir finden fast alle alten Gebäude von damals wieder und machten Vergleichsfotos „Früher“ – schwarz-weiß. „Heute“ – farbig“. Alle Personen auf den Fotos sind fühlbar und nah. Sie lächeln uns aus der Vergangenheit an.

Eine 88jährige Dame, die vor einem alten Fachwerkhaus fegt und deren Haus sich als das damalige meiner Urgroßeltern herausstellt, nur ein wenig an der Fassade verändert und der Garten ist auch weg, sieht auf dem alten Foto zum ersten Mal, wer vor ihr dort wohnte. Noch bevor sie selbst 1946 als schlesisches Flüchtlingskind dort einzog. Das Haus wurde 1776 erbaut und ihre “Vormieter”, meine Urgroßeltern mit ihren beiden Töchtern und meiner Mutter als Baby auf dem Arm ihrer Tante , die vor dem Haus fotografiert wurden, schauen sie aus der Vergangenheit an. Wir sind kollektiv ergriffen.

             

Am nächsten Tag steigen wir die Stufen des Treppenhauses von Schloss Wolfenbüttel hoch und ich denke „Die haben damals, als meine Mutter hier im Schlossinternat war, bestimmt schon genauso geknarzt“. Meine Mutter musste das Gymnasium 1948 nach der Währungsreform verlassen, weil meine Großeltern das Geld für Schule und Internat nicht mehr hatten. Ihr Traum vom Lehrerinnenberuf war geplatzt. Sie hat es nie verwunden.

Dann sitze ich im Schlosshof, heule Rotz und Wasser als mir mein Sohn etwas erzählt, was mir meine Mutter nie erzählte. Dass es Leute gab, die meiner Mutter Geld und Unterkunft gegeben hätten, damit sie doch noch ihr Abi machen kann.  Dass mein Großvater die Hilfe aber nicht annahm. „Das haben wir nicht nötig“. Ich erfahre zum zweiten Mal, wie hart mein Großvater sein konnte…

Wie damals, als er mich, ich saß vor meinem nicht leergegessenen Teller, freundlich fragte „Möchtest Du als Nachtisch von Omas Erdbeerkompott haben?“ Ich strahlte ihn glücklich an. „Jaaa!“ Ich liebte diese eingemachten Erdbeeren!

Von einer Sekunde zur anderen sagte er mit der Härte von Beton „Das könnte Dir so passen! Wer seinen Teller nicht leer isst, der bekommt nichts!“ Seit damals wußte ich, dass er zwei Gesichter hatte. Und nun das mit dem Internat… Erinnerungen sind nicht immer nur schön. Aber immer wichtig.

In Lehre, wo meine Mutter ab 1935 in der Wohnanlage einer Munitionsfabrik aufwuchs, im “Kampstüh”, und wo ich als Kind oft zu Besuch bei meinen Großeltern war, erfahren wir, dass diese Fabrik eine schlimme Vergangenheit hat. Mit Reichsarbeitsdienstmädchen sowie osteuropäischen Zwangsarbeitern, die unter elenden Bedingungen dort schufteten. Mindestens 12 der osteuropäischen Zwangsarbeiter starben. Sie kamen in den Erzählungen meiner Großeltern nie vor, sie müssen diese armen Seelen aber erlebt haben, denn mein Großvater war in der Muna als “Feuerwerker” angestellt.

Das Geländer am Wach-Tor steht noch, jedenfalls teilweise. Damals saßen “die Kinder vom Kampstüh” drauf, ganz rechts meine Mutter. Nun ich, 87 Jahre später. Sowas geht ganz tief rein ins Herz…

     

Drei Tage sind wir unterwegs, saugen alles auf, was wir sehen, sind meiner Mutter und ihrer Familie sehr nah. Und wollen mehr. Nächstes Jahr, spätestens, fahren wir zu meiner Tante nach Köln, der Schwester meiner Mutter. Die beiden waren 16 Jahre auseinander, meine Tante und ich nur 14 Jahre und sie ist auch meine Patin. Mein Sohn hat sie nur einmal kurz am Telefon gehört. Dann können die zwei sich endlich kennenlernen. Im Jahr drauf wird es auf die Reise in meine eigene Kindheit gehen, nach Hamburg. Vielleicht auch schon früher…

Ja, es kann sein, dass unsere Kinder sich später nicht für unsere Geschichte, die auch ihre ist, interessieren. Das ist jedoch relativ unwahrscheinlich. Aber wenn sie es doch tun, mehr wissen wollen, dann ist es gut, rechtzeitig auf Zeitreise zu gehen. Und sei es „nur“ über Fotoalben und viele, lange Gespräche.

Wenn man alles erinnert und niedergeschrieben hat – oder hat niederschreiben lassen – dann weiß man: „Es wird doch etwas von mir bleiben, wenn sonst nichts mehr von mir da ist. Ich hinterlasse Spuren…“ Der Gedanke ist für mich beglückend und auch mein Sohn ist glücklich, dass wir diese Reise machen. Wir sind uns in diesen Tagen so nah wie selten.

Ich fühle mich mehr und mehr eingebettet in die Geschichte meiner Familie, fühle mich nicht im historischen luftleeren Raum. Ich kann vieles besser verstehen, auch Charakterzüge einiger Vorfahren. Je mehr ich über die Zeit vor, während und nach dem Krieg erfahre, desto mehr habe ich Verständnis für meinen Opa, der nämlich auch sehr lieb sein konnte.

Dieses Besuchen der Vorfahren in ihrer Lebenswelt tut gut, manchmal schmerzt es. Wie das Leben eben so ist.

Am vierten Tag steige ich wieder in die ICE-Zeitkapsel. Sie bringt mich in die Gegenwart zurück, in den Alltag. Doch die Erinnerungen bleiben und ich werde sie weiter aufschreiben, wieder ein bißchen weiterarbeiten an meiner ganz eigenen Biografie.

Und ich denke: Biografien sind nicht nur Lebenserinnerungen. Sie sind Spuren-, Lebens- und Wurzeln-Bewahrer. Und ich fühle mich beschenkt, dass mein Sohn mir nicht nur im Schreiberischen gleicht, sondern auch angefixt wurde von der Frage „Wo komme ich her?