Erinnerungen möglichst lebendig zu Papier zu bringen, ist immer wieder eine Herausforderung. Manchmal hilft es, in anderen Biografien zu stöbern: Welcher Anfang gefällt mir gut? Welcher Dialog spricht mich an? Was brauche ich, um in eine Geschichte „hineingezogen“ zu werden?

Hier lesen Sie den Anfang der Biografie von Olli Dittrich, der mir persönlich besonders gut gefällt. Ich verrate Ihnen, was ich als Biografin daran gut finde und lade Sie ein, sich davon anregen zu lassen: Schreiben auch Sie aus einer Zeit großer Gefühle – lebendig, menschlich, aufrichtig.

Rocket Man lebt

Anfang der Biografie von Olli Dittrich, „Das wirklich wahre Leben“, Piper 2012

Es war im Sommer 1972. Ich war 16 und trug zum ersten Mal eine modische Hose. Nichts Durchgereichtes von meinem älteren Bruder, nein nein, meine erste eigene, ein schlichter Traum. Diese Hose gab mir das Gefühl, noch eine Nummer größer zu sein als Volker Bornemann, der mit seinem neuen Parka über den Schulhof des Alstertal-Gymnasiums schob und uns andere Jungs ziemlich alt aussehen ließ. Es handelte sich um das Top-Modell aus der Litfaßsäulenwerbung, eine echte „Jinglers-Jeans“ von C&A, die in Wahrheit aber gar keine Jeans, sondern eine weinrote Feincordhose mit reichlich Schlag war und am rechten unteren Hosenbein ein Glöckchen hatte. Sie saß perfekt auf den Hüftknochen und ich werde nie vergessen, wie ich an jenem Samstagnachmittag im Sommer in die Schlaufen dieser Hose einen zigarettenschachtelbreiten braunen Ledergürtel montierte, dessen vernickelte Schnalle ungefähr das Gewicht eines Wagenhebers hatte. An den Füßen trug ich weiße Cloggs, das waren dicke Holzpantinen mit Lederummantelung, und mein hellblaues Hemd war mit weißen Blümchen bedruckt. Der Kragen ging mir fast bis zu den Ohren, und die Kragenspitzen waren jeweils so groß wie ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Die Ärmel hatte ich lässig bis unter die Ellenbogen gekrempelt, ein silbernes Gliederkettchen mit der Gravur „Love“ zierte das rechte Handgelenk, ein silberner Kaugummiautomatenring steckte am linken Ringfinger, und ein eng sitzendes Lederbändchen, an dem eine kleine, vergilbte Plastikfaust baumelte, lag um meinen Hals. Meine Matte ging mir bis zu den Schultern, und ich hatte trotz des fiesen Mittelscheitels zum ersten Mal das Gefühl, nicht mehr wie ein Mädchen auszusehen.

Ich war verliebt. Sie hieß Regina und war ab heute meine Freundin. Ich weiß noch genau, wie ich sie zwei Tage zuvor im Fußgängertunnel am Langenhorner Markt fragte, ob sie mit mir gehen will. Regina willigte ein, meinte aber, da müsse sie ja wohl erst mit Fiete schlussmachen, was aber reine Formsache sei. Das fand ich astrein von Regina. Jetzt war ich auf dem Weg zu ihr. Treffpunkt U-Bahnhof Kiwittsmoor. Ich hatte extra meine Wandergitarre dabei, die ich natürlich ohne Tasche total locker auf der rechten Schulter trug. Eine Pose, die ich zuvor auf einem Daniel Gerard-Plattencover gesehen hatte. Daniel trug ebenfalls eine weinrote Schlaghose mit breitem Gürtel, dazu ein tailliertes Oberhemd und stand mit geschulterter Gitarre im Gras. Das entsprach total meinen Vorstellungen eine wirklich überzeugenden romantischen Auftritts. Als ich den U-Bahnhof verließ, konnte ich Regina schon sehen. Erst ihr lächelndes Gesicht, ihre schulterlangen, hellbraunen Haare, die so bezaubernd in der Sonne glänzten, und dann ihre wunderschönen Beine. Sie lehnte in einem blauen Minikleid lässig am Kotflügel eines beigefarbenen Opel Kadett, der auf der anderen Straßenseite geparkt war. Sie winkte mir zu. Wie von Sinnen, geblendet von so viel Anmut, so viel Schönheit, eierte ich in meiner neuen Montur, mit Wandergitarre für zwanzig Mark auf dem Ast, stolz wie Oskar über die Straße und brachte so gerade mal eben noch halblaut ein wackeliges „Hallo“ über die Lippen. Sie antwortete nicht, lächelte nur und während ich ihr näher kam, konnte ich den milden Duft ihrer Haut riechen. Ich war wie betäubt, tausend Engel schwirrten um mich herum, und ich hörte plötzlich wunderschöne Musik. Diesen Moment werde ich niemals im Leben vergessen, denn es war nicht irgendeine Musik, es war der wunderschönste Popsong, den ich jemals zuvor gehört hatte. Und das nicht nur, weil er in diesem Moment alles über mich sagte: es war „Rocket Man“ von Elton John. Er kam aus dem Autoradio im Kadett. Die Autotür öffnete sich, und jemand stieg aus, deshalb wurde die Musik auch schlagartig so laut. Dieser Jemand war Fiete. Er legte seinen Arm um Regina, küsste sie und sagte zu mir: „Wird nichts, Alter.“

Warum mir dieser Anfang so gut gefällt:

Das „Kino im Kopf“ geht sofort los: Ich werde entführt in die 70er Jahre und kann mir alles bildlich perfekt vorstellen. Es werden viele zeittypische Details genannt. Nicht nur Mode und Musik, auch die Litfaßsäule, der Kaugummiautomat, die Schwarzwälder Kirschtorte, der Kadett und die D-Mark. Worte wie „Matte“ und „astrein“.

Ich glaube fühlen zu können, was der Protagonist gefühlt hat: Die Bedeutung des richtigen Aussehens, hinter der er seine Schüchternheit und Unsicherheit verbergen kann. Die berauschende Vorfreude auf das Zusammentreffen.

Ich freue mich, dass die Episode mit „Wird nichts, Alter“ endet. Nicht alles muss ausgedrückt werden. Als Leserin habe ich gerne Raum, mir meine eigenen Vorstellungen zu bilden.

Der Text transportiert zwischen den Zeilen auch bereits viel über den Charakter Olli Dittrichs: Er kann über sich selbst lachen, – eine hohe Lebenskunst. Er präsentiert sich in voller Menschlichkeit, ohne sich aufplustern zu müssen. Er versteht es, auch einer Niederlage noch viel Schönes abzugewinnen.

Schreib-Tipp:

Lassen Sie sich von Olli Dittrichs liebevoller Jugendschilderung anregen, in ähnlicher Art und Weise  von einer Episode aus Ihrem Leben, Ihrer Jugend, einer Zeit großer Gefühle zu erzählen.

Was war „ganz großes Kino“, was haben Sie noch so lebendig in Erinnerung, als wäre es gestern erst geschehen?

Gerade das Misslungene, Peinliche, aus dem Ruder Gelaufene enthält manchmal die besten Geschichten.

Und wenn Sie auf den Geschmack gekommen sind:

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