Vor vier Jahren habe ich eine Reise angetreten, die erst jetzt zu Ende gegangen ist. Eine Reise in die Vergangenheit, auf den Spuren meines Großvaters. Das Ziel: So viel wie möglich über sein Leben herauszufinden und darüber zu schreiben. Ein Leben, das sich nur gut neun Jahre mit meinem über­schnitten hat und an das ich kaum eigene Erinnerungen habe, außer an ein Reihenhaus in Celle, ein Appartement voller Rehgehörne im Senioren-Wohnstift in Göttingen und ein Bett auf der Pflegesta­tion, wo mein Opa schwerkrank seine letzten Tage verbrachte. Und dass eines Tages ein Anruf kam, dass er gestorben war.

Die vorherigen gut 70 Jahre seines Lebens waren mir vor Beginn meiner Entdeckungsreise nur bruchstückhaft bekannt. Da gab es einen Schuhkarton voller Feldpostbriefe in schwer leserlicher Sütterlinschrift geschrieben, die mein Vater irgendwann mal abgetippt hatte. Dazu kamen allerlei Fotos sowie ein paar Dokumente und persönliche Hinterlassenschaften, die ich nicht gut einordnen konnte. Für sich allein sind sie nur wenig aussagekräftig.

Ich begab mich also auf die Suche nach mehr. Durchforstete meine eigenen Unterlagen, sichtete Materialien, die ich bei Verwandten fand, fragte bei Archiven an, studierte Akten, die dort verwahrt sind. Und ich wurde reichlich für meine Mühen belohnt: Ich fand mehr heraus, als ich erwartet hatte, hob Schätze, von deren Existenz ich gar nichts geahnt hatte. So entdeckte ich im Göttinger Stadtarchiv die Abituraufsätze meines Großvaters, als ich lediglich herausfinden wollte, wie lange er welche Schule besucht hatte. Im Niedersächsischen Landesarchiv lagen zahlreiche Schriftstücke aus seinem Entnazifizierungsverfahren vor mir, im Landeskirchlichen Archiv Hannover von ihm verfasste Briefe aus der NS-Zeit. Jeder neue Fund löste Glücksgefühle bei mir aus, vielleicht wie bei einem Kind, das ein weiteres wichtiges Puzzleteil gefunden hat, oder bei einem Kriminalisten, der der Lösung eines schwierigen Falles ein Stück näher gekommen ist.

Die Reise brachte aber auch Enttäuschungen mit sich. Sie betrafen vor allem die Persönlichkeit, die bei meinen Recherchen zum Vorschein kam. Oft dachte ich, ich hätte eigentlich lieber einen ande­ren Großvater als diesen gehabt. Einen, der sich mehr positiv hervorgetan hätte. Der über den Sinn des Krieges reflektiert hätte. Der sich empört hätte über die vielen Opfer, die dieser forderte, oder die Zerstörungen, die er anrichtete. Stattdessen finden sich in seinen Briefen aus dem Ersten Weltkrieg oft nur nüchterne Berichte vom Frontalltag, Dank für Essenspakete oder abfällige Bemerkungen über die Bevölkerung in den Einsatzgebieten, besonders die Juden. Ich wurde mit einem Großvater konfrontiert, der ein überzeugter Antisemit war, aber nach dem Krieg behauptete, er habe sich mutig für Juden eingesetzt.

Auch privat gibt es wenig, das mich besonders für ihn eingenommen hätte, das mich ihm emotional näher gebracht hätte, keine Gedichte oder Liebesbriefe, keine Tagebücher, keine Erinnerungen, wie sie von einigen anderen Familienmitgliedern überliefert sind. Wenn ich Verwandte fragte, die ihn noch erlebt haben, woran sie sich erinnern und was er für ein Mensch war, dann kam nicht viel. Er war offenbar jemand, der wenig Eindruck auf andere machte, unscheinbar, blass, langweilig. Interessant machte ihn vor allem die Zeit, in der er lebte, weniger seine Persönlichkeit.

Und dennoch schaue ich am Ende meiner Recherchen und der Verarbeitung meiner Ergebnisse auch mit Respekt und einer gewissen Bewunderung auf diesen Menschen und sein Leben. Denn ich habe meinen Großvater auch als jemanden kennen gelernt, der seine Aufgaben ernst nahm, der als Offizier von seinen Soldaten geschätzt wurde, der sich gegen Widerstände für seine Überzeugungen einsetzte (auch wenn es aus meiner Sicht die falschen waren), dem seine Familie am Herzen lag und der sich nie hängen ließ, wenn es ihm schlecht ging, sondern der immer wieder mit viel Einsatz, Ausdauer und Beharrlichkeit auf ein besseres Leben für sich und die Seinen hingearbeitet hat – mit Erfolg.

Am Ende dieser Reise in die Vergangenheit weiß ich zudem umso mehr zu schätzen, in welch ver­gleichsweise glücklichen Umständen ich bislang mein Leben führen konnte – auch wenn ich öfters mit meinem Schicksal hadere. Ich bin sensibilisiert dafür, wie fragil Frieden, Wohlstand und Sicher­heit sind, wie verführerisch ein totalitäres System sein kann und wie sehr wir alle von der Zeit ge­prägt sind, in der wir leben. Mein Verhältnis zu meinem Großvater bleibt ambivalent, aber ein Stück von ihm lebt in mir weiter, in manchen Eigenschaften und Erfahrungen von ihm finde ich mich wie­der. Ich bin froh, diese Reise gemacht zu haben.

Sonja Richter

Die Lebensgschichte meines Großvaters ist im Februar 2019 als Teil der Doppelbiografie “Jenseits der Gräben. Ein deutsch-französisches Drama von Krieg und Frieden” bei tredition erschienen.